Die Bandenkriminalität hält Schweden in Atem - ihre Ursache liegt auch in den segregierten Migranten-Vorstädten

Segregation beschreibt die räumliche Absonderung einer Bevölkerungsgruppe nach Merkmalen wie sozialer Schicht, ethnisch-kulturellem Hintergrund oder Lebensstil. Dies ist Realität und Normalität in vielen Großstädten.

Schiessereien im öffentlichen Raum und immer jüngere Täter: Die Bandenkriminalität droht Schweden über den Kopf zu wachsen. Während eine Gegenstrategie gesucht wird, fehlt im Land eine selbstkritische Diskussion darüber, wie es so weit kommen konnte.

Rudolf Hermann, Stockholm 07.10.2022, 05.30 Uhr

Mahnmal im Stockholmer Stadtteil Hammarby Sjöstad am Ort einer Auseinandersetzung im Bandenmilieu.
Christine Olsson / AP

"Wir wollen keine Chinatown in Schweden, wir wollen keine Somalitown und kein Little Italy. Wir wollen durchmischt wohnen mit den Erfahrungen, die alle mitbringen." Magdalena Andersson, die Chefin der schwedischen Sozialdemokraten, liess mit diesem Votum kurz vor der Parlamentswahl Mitte September aufhorchen.

Es waren überraschende Worte aus dem Mund der amtierenden Ministerpräsidentin. Von Sozialdemokraten, zumal von hochgestellten, hatte man solche Töne noch nie vernommen.

Segregation wird zum Thema

Magdalena Andersson, Chefin der schwedischen Sozialdemokraten.
Tim Aro / AP

Andersson gab damit im Wahlkampf einer politischen Initiative ihres Ministers für Migration und Integration Rückendeckung. Dieser hatte angeregt, in Wohnvierteln mit hohem Immigrantenanteil die Quote "nichtnordischer" Bewohner zu deckeln, um der gesellschaftlichen Segregation Herr zu werden. Segregation dürfe man nicht nur nach sozioökonomischen Kriterien definieren; auch ethnische Zugehörigkeit könne eine Rolle spielen.

Eine ähnliche Massnahme hatte vor ein paar Jahren in Dänemark eine bürgerlich-konservative Regierung lanciert, mit dem Ziel, die notorischen "Ghetto-Bezirke" aufzubrechen. Damals hagelte es Kritik von vielen Seiten, nicht zuletzt aus dem Mund schwedischer Linker. Inzwischen scheint das dänische Rezept still und leise den Weg auch in die Ausländerpolitik der schwedischen Sozialdemokratie gefunden zu haben.

Eine hohe Konzentration von Immigranten in gewissen Wohnvierteln städtischer Agglomerationen gibt es in Schweden zwar schon lange. Zum heiss diskutierten Thema ist die gesellschaftliche Segregation in den vergangenen Jahren aber erst durch ein Phänomen geworden, das viele Schwedinnen und Schweden stark beunruhigt: die Bandenkriminalität. Sie drängt immer mehr in den öffentlichen Raum, und zwar in einem Ausmass, das man früher nicht kannte.

So viele tödliche Schiessereien wie noch nie

Todesfälle durch Schusswaffe in Schweden, 2012-2021 (Kalenderjahr) bzw. 2022 (erste neun Monate)
Anteil des kriminellen Milieus an Schiessereien mit Todesfolge: rund 80 Prozent.
Quelle: Schwedischer Rat für Verbrechensprävention (BRA)
NZZ / ruh.

Wildwuchs im Bandenwesen

Mehrfach schon sind dabei Unbeteiligte zu Schaden oder sogar zu Tode gekommen - auch Teenager und Kinder. Auch die Täter werden immer jünger. Die Gesellschaft und ihre Sicherheitsorgane scheinen die Gewaltspirale nicht stoppen zu können.

"Die Situation ist deutlich volatiler geworden", sagt Camila Salazar Atías, eine führende schwedische Kriminologin für Fragen der Bandenkriminalität. "Bei manchen Gangs fehlen heute starke Führungsfiguren und feste Strukturen. Dadurch entsteht Raum für interne Rivalitäten. Wer mehr Macht will und eine Gelegenheit dazu sieht, versucht sie zu ergreifen. Zumal der Zugang zu Waffen einfacher geworden ist und ein Gangmitglied nicht mehr langwierig in einer Hierarchie aufsteigen muss, um an Schusswaffen zu kommen. Es hat sich eine Subkultur innerhalb der Subkultur gebildet."

Auch andere Fachleute, die sich mit Bandenkriminalität beschäftigen, heben die Bedeutung von Konflikten innerhalb von Gangs hervor. Mehrere Chefs seien in letzter Zeit mit langen Strafen im Gefängnis gelandet, nun kämpften Jüngere um die Spitzenpositionen.

Dass immer mehr jüngere, teilweise minderjährige Täter in Schiessereien verwickelt sind, hat jedoch auch eine andere Ursache. Im schwedischen Recht gab es lange einen sogenannten Strafrabatt für Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren: Sie konnten für gleiche Straftaten mit deutlich milderen Urteilen rechnen als über 21-Jährige.

Im August 2020 kam bei dieser Tankstelle im südwestlichen Stockholmer Vorort Botkyrka ein unbeteiligtes zwölfjähriges Mädchen durch eine Kugel zu Tode, die bei einer Abrechnung zwischen Banden abgefeuert worden war. Der Vorfall liess Schweden schwer betroffen zurück.
Naina Helen Jama / TT / Reuters

Der Strafrabatt verlagert das Problem

Der Strafrabatt wurde in den 1930er Jahren mit dem Ziel eingeführt, jugendlichen Kriminellen die Resozialisierung zu erleichtern und die Gefahr einer Verrohung im Gefängnis zu vermindern. Aber angesichts der zunehmenden Bandenkriminalität beschloss das Parlament auf Anfang 2022, den Strafrabatt für 18- bis 20-Jährige aufzuheben für Verurteilungen von über einem Jahr Gefängnis. Damit will man verhindern, dass Gangs weiterhin Jugendliche für Straftaten beauftragen, die, wenn sie gefasst werden, schneller wieder freikommen.

"Den Strafrabatt haben wir zwar nicht mehr", sagt Camila Salazar Atías, "aber die strukturellen Gründe der Bandenkriminalität sind immer noch da. Die Gangs setzen jetzt einfach noch jüngere Mitglieder für Straftaten ein." Jünger bedeute auch unerfahrener, und das sei mit ein Faktor für den Wildwuchs im Gefüge des Bandenwesens, der in letzter Zeit zu beobachten sei.

Zwar hat die Polizei einige bemerkenswerte Ermittlungserfolge erzielt, seit sie Zugang zu Software erhalten hat, mit der sich verschlüsselte Chat-Programme knacken lassen. Doch generell, sagt Salazar Atías, sei die Aufklärungsrate bei Schiessereien mit etwa 25 Prozent immer noch viel zu niedrig. Wenn Kriminelle gute Aussichten hätten, nicht gefasst zu werden, verliere auch die Drohung mit höheren Strafen ihre Wirkung.

Die Stockholmer Parallelwelten

Strassenszene in Rinkeby, einem der ethnisch am stärksten segregierten Aussenquartiere Stockholms.
Ilvy Njiokiktjien / Laif

Von der Bandenkriminalität und ihren Auswüchsen betroffen sind vor allem die derzeit 61 Stadtquartiere, die von der Polizei auf einer jährlich aktualisierten Liste als "sozial exponiert" (28 Bezirke), "risikobehaftet" (14) und "sozial besonders exponiert" (19) geführt sind. Ausschlaggebend für die Klassifizierung sind Kriterien wie die Existenz segregierter Gesellschaftsstrukturen, eine überdurchschnittlich hohe Kriminalitätsrate oder Schwierigkeiten der Polizei, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Zu etwa zwei Dritteln liegen diese Bezirke in den Agglomerationen um die Grossstädte Stockholm, Göteborg und Malmö.

Dazu gehört auch Rinkeby im Nordwesten Stockholms, das wohl bekannteste Problemquartier in Schweden. Das ist bei einem Augenschein allerdings nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Die Bauten stammen mehrheitlich aus den 1970er Jahren und wirken zwar etwas heruntergekommen, aber nicht weniger ordentlich als in manch anderen Stockholmer Vorstädten mit besserer Reputation. Zwischen den Blöcken befinden sich baumbestandene Grünflächen mit Spielplätzen und Sportarealen. Ein Mann mittleren Alters in einer Jacke mit der Aufschrift "Coach" hat ein paar Jugendliche um sich geschart und spielt mit ihnen auf einem Sandplatz Beachvolleyball.

Blickt man aber auf die Passanten statt auf die Häuser, fällt auf, dass fast alle einen Migrationshintergrund haben. Laut Statistik sind es in Rinkeby 92 Prozent; besonders stark vertreten sind Personen, die aus Afrika und Mittelost stammen.

Schweden - ein Land mit starker Immigration

Einwanderung von 1970 bis 2021 und Ausblick bis 2050 (in Tausend)

Quelle: Statistics Sweden
NZZ / ruh.

Ähnlich sieht es in Tensta aus, einem mit rund 16 000 Einwohnern etwa gleich grossen Stadtteil ebenfalls im Nordwesten von Stockholm. Hier ist Ahmed Abdirahman aufgewachsen, ein Somalier, der kurz vor der Jahrtausendwende im Alter von zwölf Jahren nach Schweden gekommen ist. Erst nach dem Abschluss der Mittelschule habe er festgestellt, dass es ausserhalb von Tensta ein ihm unbekanntes, völlig anderes Schweden gebe - das "Schweden der Schweden". So gross sei das Ausmass der Segregation.

Heute leitet Abdirahman eine Nichtregierungsorganisation, die diese Kluft zu verringern sucht. Doch bei einem Blick in die Bevölkerungsstatistiken einzelner Vorstädte - oder auch bei einem blossen Augenschein - wird klar, wie viel Arbeit dafür noch nötig sein wird.

Rinkeby und Tensta - zwei Beispiele stark segregierter Vorstädte

Struktur der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, nach Herkunft, in Prozent (2021)
Als Migrationshintergrund ist definiert: Im Ausland oder in Schweden in eine Familie mit zwei ausländischen Elternteilen geboren. Quelle: Stockholms Stad
NZZ / ruh.

Fehlende Selbstreflexion der Mehrheitsgesellschaft

Camila Salazar Atías, schwedische Kriminologin.
PD

Es geht darum, Jugendlichen aus der zweiten Generation von Einwandererfamilien die Grundlagen für eine positive Lebensperspektive zu vermitteln. Die starke räumliche Segregation vermindert die Bildungschancen, denn in Schulen, in denen eine grosse Mehrheit von Kindern nicht Schwedisch als Muttersprache hat, ist schon allein die sprachliche Integration als Basis der Wissensvermittlung eine Knacknuss. Zudem kämpfen Schulen in Immigrantenquartieren nicht selten auch mit einem Mangel an qualifiziertem Personal sowie erheblicher Fluktuation, da die Arbeit aufreibender ist als anderswo.

Das färbt später auf die beruflichen Perspektiven der Jugendlichen ab. Eine Untersuchung des Lehrerverbandes zeigt, dass in den Schulen der segregierten Vorstädte die Quote von Schülerinnen und Schülern überdurchschnittlich hoch ist, die die neunjährige obligatorische Grundschule ohne einen Abschluss verlassen, der zum Besuch einer weiterführenden allgemein- oder berufsbildenden Schule berechtigt. Der Anteil liegt in den Problemquartieren bei 33 Prozent, während es im Landesdurchschnitt bloss 14 Prozent sind.

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Ohne Besuch einer weiterführenden Schule stehen jedoch die Aussichten auf Arbeit und Einkommen von Anfang an schlecht. Für Jugendliche mag in einer solchen Situation die "Karriere" in einer kriminellen Bande eine verlockende Alternative sein.

Wer sich von vornherein vom Gemeinwesen im Stich gelassen fühle, habe auch wenig Motivation, sich mit diesem zu identifizieren, sagt die Kriminologin Salazar Atías. Politik und Mehrheitsgesellschaft hätten hier bisher zu wenig getan, um Abhilfe zu schaffen.

Die Einsicht, dass die zahlenmässig grosse Einwanderung auch starke Mechanismen für eine erfolgreiche Integration brauche, habe sich erst in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren eingestellt. Zuvor seien Fehlentwicklungen wie zum Beispiel eine übermässige Konzentration spezifischer Einwanderergruppen in gewissen Vorstädten nicht hinterfragt worden. Man habe sich der Illusion hingegeben, dass die Integration irgendwie von selbst passieren werde.

"Die Mainstream-Gesellschaft müsste die Verantwortung für diese Defizite akzeptieren", sagt Salazar Atías. "Doch es fehlt weitgehend ein Bewusstsein dafür, selber ein Teil des Problems zu sein." Die Schuld für die missglückte Integration suche man einseitig bei den Zuwanderern.

Das sei keine gute Voraussetzung dafür, diese für mehr gesellschaftliches Engagement zu gewinnen. Und es gelte zu bedenken, dass Einwohner mit Migrationshintergrund inzwischen rund 20 Prozent der schwedischen Bevölkerung ausmachten.


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